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Labels und warum sie überbewertet werden

Disclaimer: Dieser Artikel über so genannten Labels im BDSM ist autobiografisch und möchte niemanden explizit vorführen, angreifen oder über andere urteilen. Es geht um subjektive Gedanken.


Welche Labels hast du denn so? Stehst du auf BDSM? Oben oder unten? Aktiv oder passiv? Bist du hetero-, homo-, bi-, trans- oder pansexuell? Seid ihr jetzt eigentlich zusammen? Ist eure Beziehung dann poly oder offen? Uff. Eine Menge Fragen. Das ist ja auch so ein kleines bisschen der Nachteil an unserer extrem gut aufgeklärten Bubble, nicht wahr? Für alles gibt es ja Namen, Etiketten, Labels, Bezeichnungen. Und wir sind ja alle super tolerant und offen, also kann man das doch schon mal fragen. Oder?

Theorie und Praxis

Gefühle, oftmals Fluch und Segen zugleich, halten sich nicht an Schilder, Labels, Etiketten oder Pläne. Und auch wenn die Theorie “wir sind jetzt in einer Polybeziehung” einfach klingt, so ist es praktisch doch oft ein wenig komplizierter. Zum Einen ist es schon bei zwei Personen nicht gerade leicht, von Anfang an ein klares Standing zu haben. Was sind wir denn jetzt genau füreinander, wer fühlt was und was sagen wir unseren Freunden und Familienmitgliedern, wenn sie wieder einmal wissen wollen, ob es jemanden gibt? Kommt eine oder gar mehrere Personen dazu, wird das nochmal schwieriger. Damit meine ich jetzt nicht die Kommunikation nach außen, denn ehrlich gesagt ist die ja wohl vollkommen zweitrangig. Auch zu dritt, viert, offen oder ganz anders, sind Menschen mit Gedanken und Gefühlen beteiligt, und diese sind auch nicht immer ganz eindeutig definiert. Wir haben aber das Bedürfnis, diese Situation klar zu benennen und begeben uns in unserer kinky Bubble auf die Suche nach Labels, die zu diesem Beziehungsmodell passen könnten.

Wir brauchen doch jetzt ein Label – oder?

Konstruieren wir mal ein hypothetisches Beispiel. Ein Paar, welches sowohl hetero- als auch homosexuell sein könnte, ist seit ein paar Jahren liiert. Vielleicht verheiratet, vielleicht lose, es spielt keine Rolle. Die beiden leben zusammen und haben vor, immer zusammen zu leben, gegebenenfalls auch eine Familie zu gründen. Vielleicht sind Kinder auch schon da, durch alte Beziehungen oder auch eigene. 

Jetzt stößt eine weitere Person hinzu. Man lernt sich kennen, versteht sich gut, die Harmonie stimmt und die Chemie auch. Es kommt zum Dreier, ob kinky oder nicht, ebenfalls sekundär. Weil man ja ohnehin nicht so oft jemanden findet, mit dem oder der es menschlich und sexuell harmoniert und den oder die es nicht stört, dass man bereits vergeben ist, sind sich die drei schnell einig: Wiederholung gewünscht. Ab diesem Zeitpunkt könnte man jetzt von einer Beziehung sprechen – aber von was für einer eigentlich?

Stürzt man sich mal tiefer in die Welt der Polyamorie wird schnell klar: die Varianz ist endlos. Polyamor oder Polygam? Bigamie? Dreieck als Konstrukt oder doch nur völlig offene Beziehung? Oder mono mit Option auf Freundschaft Plus? Mono, aber zusammen auch andere? Swinger? Welche Labels könnten passen? Die Möglichkeiten sind vielfältig und tatsächlich gibt es für gefühlt alles einen Begriff. Naheliegend, dass der Begriff für sich selbst gefunden werden will, denn wie soll man denn bitte sonst all die oben genannten Fragen bei der nächsten Gelegenheit beantworten?

Menschen, Normen und Labels

Warum gibt es eigentlich Normen und warum genau ist es uns wichtig, etwas einordnen, normen, benennen oder definieren zu können? Gerade Deutschland ist für seinen Hang zu Normen und zur Bürokratie berühmt. Die deutsche Bevölkerung scheint Normen zu lieben: Nach Angaben von DIN gibt es etwa 34.500 DIN- Normen, und dann kommen EC- und ISO-Normen auch noch dazu. Nachvollziehbar, dass dann die Gesellschaft auch gerne Dinge beim Namen nennt. In der Wirtschaft sollen Normen der Kompatibilität und der Qualitätssicherung von beispielsweise Bauteilen dienen. Bei Papier kennen wir spätestens ab der ersten Klasse DIN A5, 4 und 3.
Warum aber wollen wir menschliche Normen und warum Labels für unsere Beziehungen? Soziologen beschäftigen sich eingehend damit und herauskommt – wenn auch in vielen unterschiedlichen Varianten – vor allem eines: Sicherheit. Wir glauben, wenn etwas definiert ist, klar benannt wird, eine definierte Struktur hat und gewissen Regeln folgt, dann ist es auch sicher.

Als gäbe ein Name uns eine Garantie für unsere Gefühle.

So heißt es beispielsweise in Einführung in Soziologie:

“Im soziologischen Sinne kann man unter Werten die bewusste oder unbewusste Vorstellungen der Mitglieder einer Gesellschaft verstehen, was man erstreben und wie man handeln soll” (Abels 2009b: 15). Normen regeln das Zusammenleben und machen das Leben planbar. Sie sind verbindlicher als Werte (Peuckert 2004: 213). Normen und Werte sagen uns, wie wir handeln sollen: Nach einer Vorführung wird applaudiert, an der Supermarktkasse stellt man sich hinten an. Wir kennen die Kleidungsvorschriften beispielsweise bei einem Begräbnis, am Strand oder im Büro. Dies ist keineswegs naturgegeben, es sind Menschen, die diese Werte und Normen geschaffen haben und sie sind deshalb auch kulturell geprägt.

(Theresa Fibich und Rudolf Richter, Fakultät für Sozialwissenschaften, Universität Wien)

Warum das in der Realität schwierig ist

Zurück zu unserem hypothetischen Dreiergespann. Halten wir fest: Ein Paar plus eine weitere Person. Chemie passt. Sex passt. Sympathie passt. Was passt denn nicht? Zum einen sind wir ja alle sozial geprägt worden und die meisten Menschen über 30 in Deutschland haben da noch dieses Bild von heiraten, Kinder kriegen, Wohneigentum und so weiter als ideales Leben im Kopf. In der LBGTQ+-Community mag sich das aufgrund einzelner Faktoren schon früher gelöst haben, doch nach wie vor sind viele Menschen sehr in diesem Gedankenmuster verankert und hängen eben genau an diesem Plan.

Ich als Individuum muss also ein anderes Individuum finden, mit dem ich glücklich bin. Das Paar hat also möglicherweise verschiedene Bedenken: Wie sollen wir unseren Freunden erklären, das wir jetzt mehrere sind? Wie den Eltern, Großeltern, Tanten und Onkeln? Wenn ich nie offenbare, in welchem Umfang diese Person zu uns gehört, ist das für diese Person doch auch sehr verletzend? Denkt meine primäre Partnerperson, er oder sie wäre mir nicht ausreichend, wenn ich klar sage, ich habe mehrere Partner:innen?

Auch die Einzelperson, die das Paar jetzt ergänzt oder bereichert, hat vielleicht den Plan verfolgt, einen eigenen Partnermensch an der Seite zu haben. Was soll diese Person denn sagen? “Ich allein finde keinen anderen Menschen, ich hab mir jetzt jemanden gegönnt, der schon eine Partnerperson hat”? Was ist mit der eigenen Familien- oder Lebensplanung? Dem Wunsch, selbst so ein Grundgerüst zu haben und zu bauen, statt mit ins gemachte Nest zu steigen? Armutszeugnis oder Segen? Auch hier dann natürlich wieder diese Fragen und Floskeln: “Warum tust du dir das an?”, “zweite Geige”, “drittes Rad” und so weiter und sofort. Vielleicht ist es ja auch einfach schwer, offen damit umzugehen. Dann vielleicht lieber doch immer nur den oder die eine:n Partner:in aus der Paarbeziehung mitnehmen und als Partnerperson vorstellen? Alles gar nicht so leicht.

Deswegen sind Labels überbewertet

Und all dieser emotionale und soziale Druck drückt sich jetzt auf jeden der drei Teilnehmenden dieser Beziehung nieder. Wer sagt wem wann was und warum oder wieso auch besser nicht? Wer liebt wen wie sehr und wer ist jetzt mehr oder weniger Part dieser Beziehung? Was soll das Ziel in der Beziehung sein, wer darf noch auswärts oder nicht, zieht man zusammen oder ist es einfach ein sexy Geheimnis? Dabei ist das doch überhaupt nicht der Kern der Sache. Durch das bloße Gedankenkarussell entsteht so viel Druck und Erwartungshaltung, da kann es einem den Spaß am “Jeu à trois” direkt wieder verderben. 

Dabei sollte die Priorität sein, ob es gut ist, wie es gerade ist. Sich entspannt zurücklehnen, den Moment genießen und sehen, was die Zeit bringt. Wer wem gegenüber welche Gefühle entwickelt, ob das Aufkeimende etwas schönes und stabiles ist, dass alle gleichzeitig glücklich macht oder es schafft, mehr Bedürfnisse zu befriedigen, als das Alleinsein oder die Zweisamkeit. Der eigentliche Punkt ist ja lediglich, wie es jedem im Konstrukt geht und nicht, wie die Gesellschaft das Konstrukt möglicherweise findet. Und ja, vielen Menschen hilft es, wenn sie ihren Beziehungsstatus klar benennen können. Sie fühlen sich sicherer, kommunizieren in der Bubble vielleicht einfacher, sind möglicherweise mit sich oder ihrer Beziehung mehr im Reinen. Das ist gut und ein schöner, positiver Effekt.
Doch der Etikettierungszwang für unsere Beziehungen macht gerade dann, wenn unkonventionelle und einzigartige, neue Verbindungen entstehen, die Hürde gefühlt noch höher. Vielleicht sollten wir deshalb gut überlegen, ob es uns wirklich so wichtig ist, auf alles ein Label zu kleben und nach jedem Detail und Status zu fragen. Vielleicht sollten wir besser anfangen, es zu nehmen, wie es kommt und es zu genießen, wie es ist.