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“Ja heißt ja” statt “nein heißt nein”

Sexuelle Selbstbestimmung ist ein gesamtgesellschaftliches Thema. Es geht nicht nur Minderheiten und Randgruppen etwas an. Deshalb haben verschiedene Menschen zu diesem Thema die Initiative Dein Sex Deine Wahl ins Leben gerufen.

Mira ist schon lange in der kinky Szene, unter anderem bei JungeSMünchen aktiv. Als gewisse Fragen immer wieder aufgetaucht sind, kam die Idee, ein Projekt zu starten. Natalie ist Sozialwissenschaftlerin und promoviert zum Thema BDSM und Subkulturen. Auch sie findet, dass Sexuelle Selbstbestimmung und Konsens etwas sind, das uns alle etwas angeht. Nicht nur BDSMler.

Sexuelle Selbstbestimmung als gemeinsamer Nenner für alle

Quelle: Dein Sex Deine Wahl

In eurer Initiative geht es um Sexuelle Selbstbestimmung. Warum ist das Thema so wichtig und was war der Impuls für euer Projekt?

Mira: Unser Gedanke war: Muss wirklich jeder eigene Buchstabe bei LGBTQ+ seinen eigenen Kampf führen? Oder gibt es einen gemeinsamen Nenner für alle? Könnte nicht die Sexuelle Selbstbestimmung ein Überbegriff sein? Soll nicht, solange Konsens besteht, jede:r seine/ihre Sexualität ausleben, wie er/sie es möchte? Außerdem haben wir als JungeSMünchen festgestellt, dass wir seit Jahren immer dieselben Fragen beantworten. Oft geht es da gar nicht speziell um BDSM. Denn für Sexuelle Selbstbestimmung muss man nicht kinky sein. Wie man Konsens einholt und in seine Partnerschaft oder Sexualkontakte einbaut, das sollte Allgemeinwissen sein.

Was sind das denn für Fragen, die euch immer wieder gestellt werden?

Mira: Darf ich das? Wie mache ich das? Wie fange ich damit an? Viele Menschen sind sich nicht mal sicher, ob das, was sie mögen überhaupt möglich ist. Da geht es nicht nur um Kink. Sondern auch um nicht-monogame Beziehungsformen, Sexualpraktiken oder beispielsweise, ob es in Ordnung ist, gar keinen Sex zu wollen.

Natalie: Indirekt werden auch viele feministische Themen angeschnitten. Vom BDSM wissen wir, dass unsere Neigungen nicht geschlechtsgebunden sind. Auch eine Frau kann dominant sein, mehrere Partner haben und damit aus der “gesellschaftlichen Rolle” fallen. Oder es geht um die Idee: Was ist schön? Kann ein Mann, der Spitze trägt, männlich sein? Wie verhalte ich mich, wenn jemand nichtbinär ist? Man merkt: Das sind gesamtgesellschaftliche Fragen. Um die möchten wir uns bei Dein Sex Deine Wahl kümmern und sie differenziert betrachten und beantworten.

Das Recht und die Pflicht der Sexuellen Selbstbestimmung

Gehören zum Sex nicht immer mindestens zwei? Hat man da überhaupt wirklich die Wahl?

Natalie: Das Ganze ist ein bisschen Auslegungssache. Erstmal sind Masturbation und der eigene Körper auch ein wichtiger Teil der eigenen Sexualität. Klar, wenn wir klassisch an Sex denken, denken wir an mindesten zwei Personen. Aber eigentlich ist auch die Sexualität mit sich selbst und die eigene Lust ein großer Aspekt. Je besser du weißt, worauf du stehst, desto besser kannst du auch in einer Partner:innen-Sexualität vorgeben, was du möchtest – und was nicht. Andererseits muss man natürlich sagen: Sex mit anderen Personen ist immer auch ein bisschen vom Kompromiss geprägt. Aber wie man den Kompromiss am besten aushandelt, das kann man bei uns lernen.

Mira: Es gibt zwei Komponenten. Das eine ist die Sexuelle Selbstbestimmung. Das bedeutet, du machst nur was du willst. Der zweite Teil ist Konsens: Das heißt es darf alles passieren, solange Konsens da ist. Wenn man diese beiden Aspekte berücksichtigt, dann haben wir Sexuelle Selbstbestimmung für alle.

Warum sollte Sexuelle Selbstbestimmung ein aktives Recht, statt ein passives Rechtsgut sein? Worin liegt da der Unterschied?

Natalie: Bei einem passiven Rechtsgut muss es erst zu einer Rechtsverletzung kommen. Dadurch ergeben sich juristische Konsequenzen. Also ein Rechtsgut muss erst verletzt werden, bevor man irgendetwas daraus folgern kann. Wir würden uns das anders herum wünschen. Sexuelle Selbstbestimmung und Konsens müssen im Vordergrund stehen. Konsens muss aktiv eingefordert werden, damit die Verantwortung nicht länger beim Opfer liegt. Wir möchten Konsens positiv besetzen, als etwas, das aktiv da ist und da sein muss. Wir stellen nicht die Verletzung in den Vordergrund, sondern das schützenswerte Gut. In unserer Gesellschaft heiß es: “Nein heißt nein!”  Diesen Ansatz finden wir überholt. Wir sind eher für ein “Ja heißt ja!” Was so viel bedeutet wie: Hol dir Konsens und gibt Konsens.

Mira: Das Motto sollte sein: Ich mache erstmal gar nichts. Solange, bis ich mir aktiv Konsens eingeholt habe oder mir dieser enthusiastisch gegeben wurde.

Konsens und Kommunikation

Sicherlich fällt das Aussprechen aber vielen schwer. Was würdet ihr raten?

Nathalie: Du sprichst ein wichtiges Problem an. Konsens zu geben wird oft als unsexy angesehen. Unsere Erotik ist oft auf Spannung aufgebaut, auf das Ungewisse, Magische. Und dann hat das Paar auf einmal, ohne je miteinander geredet zu haben, den geilsten Sex aller Zeiten. Dabei erotisieren wir die falschen Sachen. Als erstes hilft es vielleicht, zu sagen: Ich freue mich auf etwas und gebe dir deswegen aktiv Einverständnis. Nicht, weil ich denke, dass du etwas falsch machen könntest, sondern um dich zu ermutigen. Konsens geben, nicht im Sinne von Grenzen abstecken, sondern als Ansporn. Aber natürlich klappt das nicht von heute auf morgen. Vor allem nicht, wenn alle Hollywood Filme und Popkultur uns immer wieder etwas Gegenteiliges vermitteln.

Hat Sexuelle Selbstbestimmung Einfluss beim Dating?

Mira: Auf jeden Fall. Gerade bei Personen, die eher in einer Nische daten, wie bei Deviance. Erstmal kann man denen gratulieren, denn die wissen, was sie wollen. Das ist schon ein großer Teil von Sexueller Selbstbestimmung. Die nächste Stufe ist, zu wissen: So heißt das, so kann ich mit Menschen darüber reden. Gemeinsames Vokabular ist ein großer Punkt beim Dating. Einerseits sollte man sich also klar sein, was man will, dann mit dem Gegenüber darüber sprechen und im nächsten Schritt Konsens verhandeln. Beim Dating geht es darum, zu matchen und auf einer Wellenlänge zu sein. Doch was auch immer man dann auf sexueller Ebene zusammen macht, sollte man abgleichen: Was will ich, was willst du und wo kommen wir zusammen und können Spaß haben.

Natalie: Diese Kommunikation erfordert natürlich unglaublich viel Mut. Gerade beim Dating, wenn man die Person noch nicht gut kennt. Aber das geht sicher beiden so. Vielleicht wünscht sich ja auch mein Date irgendetwas, was ich selbst nicht so mag. Auch dann sollte man tolerant sein. So kann man sicherlich viele spannende Erfahrungen sammeln. Man sollte sich jedoch nicht zu etwas hinreißen lassen, was man selbst nicht möchte. Konsens GEBEN ist hier das Stichwort. Nicht nur die andere Person hat ein Mitbestimmungsrecht, was auf sexueller Ebene geschieht. Auch man selbst kann aktiv verhandeln und mit gestalten. Oder auch ein Veto aussprechen, wo man es für wichtig und nötig erachtet.

Es reicht also nicht nur, wenn die Rollen matchen und man sich gefällt.

Natalie: Genau. Vielleicht passen die Angaben theoretisch hundertprozentig zusammen. Aber Vorstellungen und Erwartungen können trotzdem unterschiedlich sein. Nur weil die Parameter stimmen, braucht es im Anschluss trotzdem Kommunikation dazu, was danach kommen soll.

Dein Sex Deine Wahl, deine Anlaufstelle

Quelle: Dein Sex Deine Wahl

Leider gibt es hinsichtlich Sexueller Selbstbestimmung viele Vorurteile und Stigmata. Was ratet ihr, wenn man bisher eher Ablehnung erfahren hat?

Mira: Es hat immer schon geholfen, den Kontakt zu Gleichgesinnten und einen geschützten Rahmen zu suchen. Es gibt ja Austauschmöglichkeiten für die verschiedensten Facetten sexueller Neigungen. Sei es, dass man sich online vernetzt oder Stammtische besucht. Genauso sollte man selbst immer anderen gegenüber tolerant sein, auch wenn deren Sex jetzt nicht den eigenen Vorstellungen entspricht.

Natalie: Natürlich muss man klar sagen: Jemand, der auf ganz besondere Dinge steht, wird es auch innerhalb der Szene schwerer haben als jemand, der auf die gängigen BDSM Praktiken steht. Es gibt leider auch unter Kinkstern noch Ablehnung. Deswegen ist es umso wichtiger, auch innerhalb der Community zu kommunizieren und zu reflektieren. Um beispielsweise Kinkshaming zu überwinden.

Wie läuft so ein Workshop bei euch ab?

Mira: Pandemiebedingt online, aber das hat auch Vorteile, weil man lokal nicht beschränkt ist. Bisher waren es immer so zwischen 12 und 20 Teilnehmer:innen. Wir hatten beispielsweise schon sechsstündige Tagesworkshops. Es ist eine Mischung aus intellektuellem Input und Erfahrungsaustausch. Bisher war das jedes mal sehr bereichernd. Man lernt viele verschiedene Herangehensweisen an das Thema Sexualität kennen. Wir hatten auch schon einen Workshop, bei dem es darum ging, über Sex zu sprechen. Da haben wir in unserem Safe Space auch praktische Übungen gemacht. Für das kommende Jahr haben wir auch schon Workshops geplant, bei denen es um Kink und Poly gehen soll.

Wer leitet die Workshops?

Natalie: Das sind immer verschiedene Personen mit unterschiedlichen Expertisen. Wir haben Mediziner:innen für die sachlichen Themen. Ich übernehme den sozialwissenschaftlichen und kulturwissenschaftlichen Teil. Mira kümmert sich oft um die Leitung und führt uns perfekt durch die Workshops. Das Ganze ist aber kein Frontalunterricht, sondern wir holen die Teilnehmer dort ab wo sie stehen. Wir geben ihnen die Möglichkeit, sich in einer großen Runde oder in Breakout-Sessions in der Kleingruppe einzubringen. Ziel ist es, eine Wohlfühlzone zu schaffen, in der man über alles reden und sich Tipps und Informationen holen kann. Ohne das Gefühl zu haben, man ist bei Doktor Sommer gelandet.

Mira: Damit man es besser im Alltag unter bringt haben wir auch Abendworkshops, die dauern etwa zweieinhalb Stunden. Das alles ist ehrenamtlich und kostenlos. Die Workshops werden via Instagram angekündigt. Auf unserer Website kann man sich dann anmelden.

Sexuelle Selbstbestimmung für alle – auch in der Politik

Was ist euer Ziel mit dem Projekt Dein Sex Deine Wahl?

Mira: Wir wollen ein langfristiges Netzwerk aufbauen. JungeSMünchen ist ja erstmal ein lokales Angebot. Unser Ziel ist eine überregionale Anlaufstelle, sodass jede:r Hilfe findet – unabhängig vom Ort und eigener Thematik.

Ist Sexuelle Selbstbestimmung auch ein politisches Thema?

Natalie: Es ist ein hochpolitisches und feministisches Thema. Sex ist politisch. Wie ich Sex habe, ist politisch. Was als okay und nicht okay angesehen wird, ist politisch. Selbst warum wir diese thematische Vorarbeit machen müssen ist politisch.

Mira: Unser Projekt hat viel mit Geschlechtergerechtigkeit zu tun. Es gab auch in der Vergangenheit schon immer auch politische Fragestellungen zum Thema Sexualität. Heute ist das Thema nach wie vor aktuell. Und man muss keiner sexuellen Minderheit angehören, um sich mit Sexueller Selbstbestimmung auseinanderzusetzen. Das Thema geht jede:n etwas an, alle Generationen und Gesellschaftsschichten.

Natalie: Beispielsweise ist § 219 ganz aktuell Bestandteil des Koalitionsvertrages. Reproduktionsfreiheit gehört auch zur Sexuellen Selbstbestimmung und wir mussten hart dafür kämpfen. Auch die Lage in unseren Nachbarländern zeigt den Bedarf der Sexuellen Selbstbestimmung in der Politik auf. Es gibt Länder, in denen Abtreibung noch unter Strafe steht. Es ist ein andauernder Kampf und wir dürfen uns nicht darauf ausruhen, dass vieles in unserer privilegierten Gesellschaft “schon irgendwie okay” ist. Das reicht nicht.