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Tadzio Müller: Mehr als Chemsex-Schwuler

Content-/Triggerwarnung: Drogen, Missbrauch, (Polizei-)Gewalt, Traumata, Homosexualität, HIV, Begriff “Sklave”.

Disclaimer: Tadzio Müller beschreibt in diesem Interview seine individuelle Lebens- und Sexualitätsgeschichte, in der auch Drogenkonsum eine prägende Rolle spielt. Wir von Deviance raten jedoch von Drogenkonsum ab, insbesondere in Kombination mit BDSM.


Tadzio Müller, ein Name den manche aus Videos von YouTube oder aus der Zeitung kennen, wenn es um die “Klimabewegung geht. Bekannt wurde der 44-jährige vor allem durch seine Auftritte auf den Berliner Fridays-for-Future und Demonstrationen vor dem Wirtschaftsministerium. Unter anderem ließ er sich dort an die Leine nehmen und hielt ein Schild mit der Aufschrift: “Faggots for Future“. Aktuell erregt Tadzio Müller aber vor allem als Protagonist der Y-Kollektiv-Dokumentation “Chemsex – Warum einige Schwule auf Drogen Sex haben” Aufsehen. In dem etwa halbstündigen Film werden er und sein (Ex-)Partner bei einem ekstatisches Wochenende begleitet, inklusive Vorbereitung, Drogenkonsum und berauschtem Sex. Dennoch geht es in dem Film um so viel mehr. Nämlich um Selbstreflexion, die Schwulenszene, BDSM und individuelle Freiheit. Ich habe Tadzio Müller auf Twitter angeschrieben, um mit ihm abseits von Drogen, Rausch und Stigmatisierung über diese Themen zu sprechen.


“Wir reden gegen die Scham. Wir wollen uns nicht verstecken, sondern darüber reden. […] Als würden wir den Code brechen. Die Schwulenszene lebt und überlebt und wir leben noch, weil wir uns so lange versteckt haben.”

Tadzio Müller

Tadzio Müller und das Y-Kollektiv

Hallo Tadzio! Die Doku stellt dich hauptsächlich als Drogenkonsument dar. Doch ich habe recherchiert und du machst noch so viele andere Dinge…

Tadzio: Vielen Dank, ich habe mich sehr über die Anfrage gefreut! Mit dem Y-Kollektiv habe ich den Fehler gemacht, auf den Chemsex – also Sex unter Drogeneinfluss – als Aufreger zu setzen, um so meinen Reach zu erweitern. Dabei hatte ich unterschätzt, wie leicht Leute nur an dem einen Thema hängen bleiben. Die eigentliche Geschichte, dass wir dadurch Zugang zu Erfahrungsräumen haben, ist hintenübergefallen. Dieser Zustand den ich, nach Gesprächen mit einem religiös erzogenen Freund als fast mystische, auf jeden Fall transformative Erlebnisse beschreiben würde. Darüber möchte ich reden.

In dem Podcast, den das Y-Kollektiv rausgebracht hat, wird unter anderem gesagt, dass deine Zusammenhänge zwischen Drogen, sexueller Befreiung und Weltschmerz ganz schöner Whataboutism wäre. Ich jedoch dachte: Nein, alles was man macht ist politisch, sobald man sich vom Mainstream entfernt.

Tadzio: Und auch das Nicht-Entfernen vom Mainstream ist politisch. Es ist eben nur die Kollaboration mit dem, was ich den Normalwahnsinn nenne. Ich sage ganz gerne: Es sind nicht die Perversen, die die Welt zerstören, sondern die Normalen. Es sind die ganz normalen Incentives unseres Alltagslebens, die uns dazu bringen, in zerstörerischen Industrien zu arbeiten, auf zerstörerische Art zu konsumieren und zu reisen. Und ich sage das gar nicht als moralisch bessere Person. Ich war auch gerade erst im Urlaub mit meinem Master, inklusive Hotel und Flug. Dennoch: Die Art und Weise, wie die Normalität unser Verhalten steuert, zerstört die Welt. Wir müssen eigentlich der Normalität den Spiegel ihrer Perversion, ihre Crazyness vorhalten. Deswegen war ich so frustriert über den Fokus auf die Chems. Ich jedoch finde es immer sehr spannend, diese Erfahrungen Leuten zu erklären. Und zwar in einem Vokabular, das für sie Sinn macht.

Weg vom Normal-Wahnsinn: Mit Aufklärung gegen Scham

Genau das ist auch unser Ansatz bei Deviance, wir sind eine Art Sendung mit der Maus für BDSM. Wir kommen damit auch beim Mainstream-Publikum an und schreiben trotzdem auch für die Szene-Erfahrenen.

Tadzio: Ich hatte am Anfang die Intention dieses Interview nackt zu führen, da ich zuhause gerade der nackte Sex- und Hausdiener bin. Die Stimmung ist gut, daher frage ich: Dürfte ich mich ausziehen?

Du hast meinen vollen Konsens, dich auszuziehen und alle Befehle deines Masters zu befolgen, die du möchtest. 

Tadzio (nachdem er sich ausgezogen hat): Ich war auf Kreta mit meinem Master. Einmal saßen wir am Pool und hatten bis zum Nachmittag davor auf Chemie gespielt und waren danach halt einfach fertig, doch hatten eine total schöne Dynamik. Ich hatte diese Kette an, jedoch ohne das Schloss und dieses Tattoo (Anm. d. Red.: Es handelt sich um eine Dicke Stahlkette mit einem Vorhängeschloss). Das Tattoo ist neu (Anm. d. Red.: deutet auf einen großen Löwen auf der Brust). Er hat das Motiv und die Platzierung ausgewählt und auch die Künstlerin.

Tadzio Müller mit seiner Stahlkette und dem Vorhängeschloss.
Foto: Nikita Teryoshin

Mein Master ist kleiner als ich, hat schmalere Schultern und ist elf Jahre jünger. Ich bin also der nach außen wirkende Alpha-Macker von uns beiden, war dann aber immer der, der die Drinks bringt. Wir haben ein Ritual, bei dem ich ihm die Zigarette anzünde und in den Mund stecke und sie dann auch wieder ausdrücke, wenn er fertig geraucht hat. Ich hab ihn den ganzen Tag nett bedient und das auch sichtbar. Das hat mir große Freude bereitet. Irgendwann musste er pissen und ich dachte mir, ich könnte jetzt ja seine Pisse trinken, aber das geht natürlich am Pool nicht.

Und dann habe ich den Gedanken entwickelt, dass ich gern in einer Gesellschaft leben würde, in der es völlig ok ist, jetzt einfach seine Badehose auszuziehen und seine Pisse zu trinken und everything is fine. Warum? These: Der Freiheits- beziehungsweise Unterdrückungsgrad sexueller Minderheiten könnte einer der zentralen Gradmesser allgemeiner Freiheit in der Gesellschaft sein. Weil sexuelle Minderheiten neben BIPoC und religiösen Minderheiten am meisten und härtesten unterdrückt werden. Und wenn dem so ist, dann wäre eine Gesellschaft in der mein Master und ich, als schwule beziehungsweise sexuelle Minderheit, unsere Sexualität da einfach so performen könnten, vermutlich auch eine, die auf ganz vielen anderen Ebenen eine freiere und gerechtere wären.

Denn Konflikte zwischen Gruppen und Ausgrenzungen tauchen vor allem dann auf, wenn es in der Gesellschaft Ungleichheit und Unterdrückung gibt. Auch zum Beispiel die Nacktheit, die ich jetzt gerade, dank deiner Offenheit, zeigen kann, ist  für mich ein Grad gesellschaftlicher Freiheit. Mir ist mein Privileg vollkommen klar, deswegen rede ich ja darüber. We want to spread the word. Um unsere Sexualität schamfrei normal seinen zu lassen, müssen wir so viel kämpfen. Es ist unser Job, das für andere zu reduzieren. Für andere, die, wie wir abweichen, ist es unser Job als Geschichtenerzähler, Leuten das leichter zu machen. 

Erniedrigung als Beruhigungsmittel

Das ist so ein bisschen der BDSM-Konflikt, über den ja keiner reden möchte. Der Konflikt, den du hast, wenn du gegen Gewalt und auch ein Stück weit Pazifist:in bist, aber darauf stehst, jemanden ins Gesicht zu schlagen.

Tadzio: Diese Sachen, die wir erleben, das ist nicht nur eine Kompensation für unser Alltagsleben. Da entdecken wir ganz reale Teile unserer Persönlichkeit, von denen die Gesellschaft sagt, das ist eigentlich nicht ok. Für einen Mann zum Beispiel ist es nicht ok, sich komplett kontrollieren lassen zu wollen und sich bestrafen zu lassen. Benutzt werden zu wollen. So kommen wir zurück zu unserem Hauptgegner Scham.

Natürlich sind Schock-Faktoren einfach das, was Leute anzieht. Die schönen, wertschätzenden Dinge möchte niemand hören. Extrem verkauft sich.

Tadzio: Ich glaube, dass es zwei Strategien gibt. Auf der einen Seite müssen wir für uns erstmal den Diskurs-Raum öffnen, denn der ist ja nicht gegeben. Das müssen wir über diese Schocker machen. Das ist medial unvermeidlich, um zu dem Thema zu kommen, über das man eigentlich reden möchte. Zum Beispiel, was du fühlst, wenn du nach Hause kommst und deine Frau kniet nackt am Boden. Das ist ein schönes und befreiendes Gefühl. Dieses Gefühl ist für mich ein Freiheitsgefühl, welches alle Menschen haben wollen. Das zu vermitteln ist eine andere Strategie.

Ich kenn richtig viele Leute die haben einen Schrebergarten. Wenn die da hinfahren legen sie ab und alles ist schön. Und wenn ich nach Hause komme und da ist jemand der wartet auf mich mit diesem Gedanken und wenn ich mit jemanden spiele, und der gibt sich auf dieser Ebene hin, dann ist das für mich dieses Ankommen, ein Entspannen, eine Art Heimathafen. 

Tadzio: Das mit der Heimat kenne ich auch. In der ersten Nacht die ich mit Goldfell verbracht habe, das war ein bisschen Liebe auf den ersten Blick. Ich kniete zwischen seinen Beinen und hab ihm einen geblasen und wir guckten uns beide an und ich dachte: “Das ist jetzt mein Zuhause.” Räumlich wie emotional. Was dann später noch dazu kam, war ein ganz krasses Gefühl der Authentizität. Es fühlt sich halt für mich authentisch an, wenn ich seinen Befehlen gehorche, wenn ich die Kontrolle abgebe. Mein Leben sah jedoch lange anders aus. Ich hatte nie eine Autorität über mir, die ich akzeptiert habe. Jetzt kann man einerseits sagen: Das ist Kompensation, du erlebst gerade etwas, das neu ist und das du verdrängt hattest. Am Anfang war es etwas authentisches, neues zu erleben, doch jetzt nach eineinhalb Jahren ist das nicht mehr so neu, sondern fühlt sich an, wie der wahrste Teil meiner Persönlichkeit. Das ist für jemanden, der seine Identität seit über 20 Jahren nur durch Ungehorsam und ständiges Kämpfen definiert, eine ganz krasse Erfahrung und stellte meine gesamte Selbstwahrnehmung auf den Kopf.

Ich glaube, was du gerade ein bisschen erlebst ist, dass deine sexuelle Vorliebe zu deiner Identität wird.

Tadzio: So ist es. BDSM ist ein Freiheitsraum. Leute können diese Zustände auch über andere Wege erreichen. Ich nutze dafür auch Drogen, andere zum Beispiel Meditation. Ich habe zum Beispiel einen Freund der macht Birdwatching. Der sitzt stundenlang da und ist eins mit der Natur. Ich jedoch komme mit einer moralischen Klarheit zurück, wenn ich ein paar Tage unter meinem Master verbracht habe. Mich zu unterwerfen, gibt mir unglaubliche Kraft, danach andere Kämpfe zu führen.

Doch was man nicht vergessen darf: Es gibt auch Gefahrenpotenziale. Ich habe inzwischen extrem unterwürfige Neigungen, nehme dazu noch Drogen – da sinkt die Hemmschwelle. Dadurch, dass bei meinem Master und mir die starke Oben-Unten-Dynamik mit einem intensiven Liebesverhältnis kombiniert ist, ist es so, dass wir das Gefühl haben, dass selbst Dinge, die vielleicht gefährlich oder pathologisch sein können, sich gut und möglich anfühlen. Wie etwa das Bedürfnis sich zu unterwerfen, nicht nur im sexuellen Kontext, sondern das Überschreiben meines Lebens, die freie Verfügung.

Das klingt nach “could enter in an abusive relationship”. Aber in den meisten missbrauchenden Beziehungen gibt es ja kein BDSM, da wird die Gewalt in der Beziehung gelebt. Ich habe diesen extrem unterwürfigen Teil in mir und der könnte mir echt zur Gefahr werden. Mein Master hat auch was Fieses und das ist auch heute noch ein Teil von ihm. Diese beiden Dinge, die vielleicht sogar für unser gesellschaftliches Leben negativ sein könnten, verwandeln wir durch BDSM in eine Quelle von unglaublich schönen Erfahrungen. Wir schaffen dadurch einen Raum von Befreiung, von Zuhause, von Intensität und Authentizität, aber auch für Selbstveränderung und Selbsterkenntnis.

In einem der Interviews, die du gegeben hast, hast du gesagt, du hast super lange gebraucht von dieser Entwicklung vom Alpha-Mann, um das dir so eingestehen zu können. Kannst du vielleicht was zu deiner Entwicklung generell sagen?

Tadzio: Ich kämpfe seit ich ein Teenager war, mit meiner Sexualität. Ich war auch ganz lange mit einer Frau in einer formell monogamen Beziehung, die ich jedoch hinter ihrem Rücken mit Männern betrogen habe. Dann bin ich 2007 nach Berlin gezogen, habe ein schwules Leben angefangen, hatte verschiedene Partner. Während dieser Zeit begann mir klar zu werden, dass ich nicht nur an – ich nenne es mal “Berliner Druggy Party Vanilla Plus”, also einem Berliner schwulen Party-Leben, wo maximal jemand gefistet wird – interessiert bin. Meine Geschichte von BDSM beginnt mit einem ganz schrecklichen Moment.

(Anm. d. Red.: An dieser Stelle teilt Tadzio Müller eine traumatische Geschichte, in der es um Polizeigewalt und Folter geht. Ich habe entschieden sie auszulassen, da diese Erfahrung wie das Drogenthema nicht der Hauptteil dieses Interviews sein soll.)

Ich kann mich noch an genau diesen Moment erinnern, den Moment der totalen Entmächtigung, der Handlungsunfähigkeit. Und seitdem hab ich ein Bullentrauma. Ich bin ohnehin jemand, der Handlungsfähigkeit immer sehr wichtig fand. Ich hatte also mein Bullentrauma und als mich das erste Mal jemand ans Bett gefesselt hat, wurde genau das getriggert, Nervenzusammenbruch, die Session ist ruiniert. Ich dachte mir: “Ok, thats not my way.”

Tadzio Müller und der lange Weg von Scham zur Befreiung

Jetzt spulen wir nach vorne, zu einer ähnlichen Situation, jedoch in einem völlig anderen Setting – damals Berlin, diesmal San Francisco – und da lief alles anders. Da gibt es ein Foto von mir, auf dem ich grinsend wie ein Honigkuchenpferd an allen Vieren gefesselt auf seinem Bett liege und man sieht mir richtig an: Boah, das ist ja das Tollste ever.

Und dann ist es aber so, dass ich die ganze Zeit politisch aktiv bin. Ich habe mir also keine Zeit genommen, mich zu fragen, was diese Erfahrungen eigentlich bedeuten. Warum will ich mich immer wieder auspeitschen lassen? Was ist so geil daran, vor Männern die ich nicht kenne, herumzukriechen und ihnen die Füße zu küssen? Ich habe meine Identitätsfragen und meine sexuellen Bedürfnisse immer hintenangestellt. Dann kam die HIV-Infektion, die hat das Ganze noch mehr verlangsamt. 2011 bekam ich die Diagnose und war erst einmal zwei bis drei Jahre Out Of Order.

Ich musste wieder mit Scham kämpfen. Zuerst habe mich vor meiner Freundin für meine Bi-Sexualität geschämt, dann habe ich mich vor meinem ersten Freund für meine Kinkyness und für meinen Drogenkonsum geschämt und mein zweiter Freund fand eh meine ganze Sexualität anstrengend. Und dann kommt HIV, die ultimative Scham. Doch dann gab es einen Durchbruch-Moment, im Sommer 2015. Wir hatten die Aktion “Ende Gelände” erfolgreich durchgezogen, haben viele Leute inspiriert, endlich gab es eine sichtbare und coole Klimabewegung. Und ich war daran zentral beteiligt.

Ein Jahr später, im Sommer 2016, saß ich auf einem der vielen Klimacamps, die dieses Jahr stattfanden, und habe mir gesagt: das läuft, es gibt viele fitte Menschen, die die Bewegung vorantreiben, ich konzentrier mich jetzt erstmal auf mich und meine eigenen Kämpfe. In Montreal habe ich dann einen jungen Mann getroffen, der mich nach zehn Minuten Rumknutschen fragte, ob ich an verinnerlichter Homophobie leide. Und da habe ich gemerkt: Scham ist überall in mir. Scham strukturiert mein Handeln, meine Ängste. Ich verstecke mich sexuell, obwohl ich alle Privilegien der Welt habe.

Wie Tadzio Müller vom Alpha zum Beta und absoluten Glücksgefühl fand

Ende desselben Jahres hatte ich dann mein HIV-coming-out auf Facebook. Das war noch bevor Conchita das gesagt hat. Überhaupt gab es zu diesem Zeitpunkt noch kaum sichtbare Leute in Deutschland, die das gemacht haben. Der einzige war Carsten Schatz von der Linken im Berliner Abgeordnetenhaus. Great guy, aber damals nicht gerade Promi. Ich bekam so unglaublich viel positiven Zuspruch, dass das mit die bewegendsten Momente meines Lebens waren.

Und seit dem – ich habe zwar weiterhin Klimabewegung gemacht – habe ich zwei Leben geführt: Das der schwulen BDSM-Schlampe mit meinem Ehemann Wolf und das des Klimaaktivisten. Ich wusste, dass ich da eine Submission wollte, aber ich wusste nicht, was es bedeutet. Dann gab es einen Moment irgendwann letztes Jahr (Anm. d. Red.: 2020), in dem ich mich von der Klimabewegung etwas distanzierte. In dem Moment treffe ich Marcel, also den Mann, der jetzt mein Master ist. Nicht nur der submissive Sex ist geil, sondern ich werde glücklich und geil, wenn ich nur seinen Aschenbecher halten darf. Für meinen Master den Aschenbecher zu halten, war geiler, als vom großschwänzigsten Pornostar gefickt werden. Das war ein krasser Bruch. Ein Moment, in dem ich merke, es ist nicht nur die Sexualität, die das allgemeine Alpha-sein kompensiert, sondern ich kann in diesem Unterwerfungszustand ein Glücksgefühl erleben zusammen mit diesem wahnsinnigen Verliebts-sein, das ich bisher nicht erlebt hatte. Ich habe 25 Jahre lang mein Leben über Ungehorsam definiert und nun erlebe ich eine völlig andere Wahrheit.

Damals begann ich die letzten Scham-Barrieren zu durchbrechen und zu merken, dass ich gerne eine Beziehung mit jemandem hätte, der die Entscheidungsgewalt über mich hat. Der mich kontrolliert und sagen kann, mach das, mach das nicht. In der es sich teilweise besser anfühlt, Dinge verboten zu kriegen, als sie erlaubt zu kriegen. Für manche Menschen, vor allem solche, die wie ich mit vielen Privilegien ausgestattet sind, und in manchen Kontexten ist Wahlfreiheit eine Freiheit, die unfrei machen kann. Wie in amerikanischen Supermärkten in denen es 800 Sorten Cereals gibt. Die treiben dich in den Wahnsinn. Ich will eine Beziehung, in der mein Partner dominant ist, bestimmen kann, wann ich wo bin und totales Vetorecht hat. Diese Idee erfüllt mich mit einem Glück und einer Freude. 

Eine meiner Schwächen ist mein Egoismus. Es ist nicht so, dass ich nicht teile oder nicht großzügig bin, aber ich denke immer zuerst an mich. Und doch durchströmt mich ein Glücksgefühl in diesem Moment, in dem ich meines Masters Aschenbecher halte, meist nach dem Sex. Wenn er mir einen Befehl gibt und ich mach das einfach fühlt sich das geil an.

Das kann ich gut nachvollziehen. Wenn ich Entscheidungen für andere treffe, nimmt mir das meine eigene Entscheidungsunwilligkeit. Sobald ich die Entscheidung für jemand anders mittragen muss, werd ich viel einfühlsamer, viel verständnisvoller.

Tadzio: Das ist total spannend. Bei meinem Master und mir ist es auch so, denn wir haben beide eine gewisse Tendenz zum Egoismus. Bei mir ist das glaube ich noch ausgeprägter, weil ich aus dem Großbürgertum komme, Marcel aus der Arbeiterklasse. Die Liebe, die ich zu Marcel empfinde, ist nochmal stärker als alles was ich davor gefühlt habe. Unter anderem, weil es das erste Mal ist, dass ich mein Glück nicht selbst organisiere. Plötzlich bringt das Glück, das ich ihm bereite, mir selbst größeres Glück. Mit meinem Master habe ich irgendwann gemerkt, wenn ich es schaffe ihn zum Orgasmus zu bringen während wir spielen, dann ist das für mich der geilste Orgasmus meines Lebens – also seiner. Es ist vor allem dieses Dienen, nicht nur das Kontrolliert-werden. Ich sehe dann richtig, wie ich ihm von meiner Kraft und Energie gebe und die macht ihn dann auch noch stärker und schöner. Für mich ist es eine Möglichkeit, endlich auch im Privatleben, nicht nur im Kampf für die globale Gerechtigkeit, für Andere da zu sein. Bei Marcel geht es ein bisschen in deine Richtung, dass er ja die Verantwortung für mich hat und deshalb auch will, dass es mir gut geht.

Als dominanter Part ist man ja gar nicht so sehr im Zentrum, wie man sich das vorstellt. Wenn Marcel dich auspeitscht, bist du im Fokus. Wenn du ihn aber bedienst, dann gibst du. Der ultimative Kraftaustausch in einer Beziehung. 

Tadzio: Bei uns ist der Kraftaustausch sehr positiv. Ja, wir geben einander Kraft, aber Kraft und Macht sind zwei komplexe Begriffe. Kraft im physikalischen Sinne, eine Kraft etwas zu tun. Macht hingegen ist ja auch nicht immer nur die Macht über jemanden, sondern auch die Macht etwas zu tun. 

Foto: Nikita Teryoshin

Ich gebe ihm von meiner Kraft, die mir auch teilweise schon zu viel wurde. Es gab Momente in meinem Leben, wo ich mir selber so viel Macht zugetraut habe, wo ich zu viel Power hatte. Und davon gebe ich meinem Master was. Dadurch, dass ich ihm Kraft gebe, werde auch ich stärker, auch wenn er das immer noch nicht ganz sieht. Es gibt beiden Kraft, es entlastet beide irgendwie ein bisschen und ist für beide gleichzeitig das Geilste, was wir je erlebt haben. Normaler Sex, ohne dass ich mindestens jemanden bedienen kann, da kann ich mir auch im Park einfach so einen random Schwanz in den Arsch stecken lassen.

BDSM als Sexuelle Identität

(Anm. d. Red.: Wir reden kurz über verschiedene Machtgefälle)

Tadzio: Wir waren bei der Scham. Ich glaube mittlerweile, dass fast jeder Mensch sich für irgendetwas in seiner oder ihrer Sexualität schämt. Nicht mal die blumigste Blümchen-Hete ist komplett frei von Schamgefühl. 

Die Begierde, die ich für meinen Master empfinde, die habe ich so nie für Andere empfunden. Ich hab mich zwar schon seit einigen Jahren – beginnend mit der Erfahrung in San Francisco – beim Sex unterwerfen können, denn der Prozess der Unterwerfung selbst ist eigentlich das, was Sex mittlerweile für mich ist. Mein Master ist aber der Erste, bei dem mir mein Körper auch im nüchternen Zustand sagt: “Geh mal unter den und bedien den mal.” Und dabei hatte er noch nie jemanden dominiert.

Ich habe ihn mal gefragt: “Wie ist deine Sexualität?” Er antwortete: “Ja… ich pass mich so an.” Wenn du in einer Gruppe einen Top gebraucht hast, war er der Top. Wenn du einen Bottom gebraucht hast, war er der Bottom. Er hatte im Grunde ein total distanziertes Verhältnis zu seiner realen Sexualität. Ich jedoch wusste, ich bin submissiv.

Tadzio Müller: “Ich nenne es mal: Ficken für die Freiheit”

Worauf ich hinaus will: Vielleicht machen es die Themen, über die wir reden wie Scham, Sex, Drogen, auch sehr schwer, Aufreger zu den eigentlichen Themen hinzubringen. Denn was wir da erleben, sind Dinge, die die Leute eigentlich haben wollen. Wir haben einen Zugang dazu, über einen Weg, auf dem uns die Mehrheit der Gesellschaft eigentlich gar nicht folgen kann. Wir haben jahrelang Scheiße gefressen und dahin zu kommen, weil wir im gewissen Sinne einfach tough-ass-bitchen sind. 

Und eine Sache, da fange ich fast an zu heulen, sind diese Schicksale von alten schwulen Männern um die 60 oder 70. Die in irgendeinem Dorf in Niedersachsen oder Bayern aufgewachsen sind, dann heiraten, zwei Kinder haben, mal gelegentlich einen Stricher im Park bezahlen und sich dann mit 60 aus dem Fenster schmeißen. Oder einfach mit 80 sterben und sagen: Ich hab nie mein Leben gelebt. 

Das ist ganz schlimm. Viele Leute würden gerne gewisse Dinge erleben, geben sich aber nicht die Chance dazu.

Tadzio: In den Siebziger Jahren gab es eine Geschichte – ich fasse sie mal unter dem Namen “Ficken für die Freiheit” zusammen. Free Love, die Homobewegung und so weiter. Wir stehen heute an einem Punkt wo “Ficken für die Befreiung” weit gefasst ist und nicht nur Penetration bedeutet, sondern auch Sex und Sexualität für die Befreiung. Eine Idee, dass eine sexuell befreite Gesellschaft auch eine anderweitig befreite Gesellschaft ist. Denn es gibt eine Hemmschwelle, zwischen dem, was die Leute in ihrer realen Sexualität erleben und dem, was sie erleben könnten, also dem Potenzial, das ihre Sexualität hätte. Nachzudenken, was diese Sexualität ist, wo die ist, könnte sich mittelfristig lohnen.

Ein großes Ding mit der Scham ist, dass die Leute immer gesagt bekommen “deine Scham ist dein Schutz”. An Scham ist in vielen Religionen und Gesellschaften das Ehrgefühl geknüpft.

Tadzio: Scham schützt uns vor Verfolgung, Prügel und Ausgrenzung durch die anderen. 

…und Ausgrenzung. In der Y-Kollektiv Dokumentation hast du gesagt: Die Schwulenszene lebt und überlebt und wir leben noch, weil wir uns alle so lange versteckt haben. Ein Aspekt von Scham, den man leider nicht ganz außen vor lassen kann, ist die Schutzfunktion. Wenn ich niemandem sage, dass ich auf diese und jene Sachen stehe, kann mich die Person auch nicht beschämen, verurteilen, verprügeln.

Tadzio: Ein völlig neuer spannender Gedanke für mich. Bisher ist Scham für mich nur negativ und hat nichts Positives. Meine These war: Wir verstecken uns, um uns zu schützen. Und wenn ich dich jetzt richtig verstanden habe, sagst du: Wir könnten und würden uns gar nicht so verstecken, wenn wir uns nicht so schämen würden.

Dabei fällt mir etwas ein, was in Griechenland passiert ist. Ich bin noch nie Opfer physischer homophober Angriffe geworden. Auf Kreta hatten Goldfell und ich morgens an einem Strand Sex und dann kamen zwei besoffene Typen vorbei und haben uns bedroht. Der eine hatte ernsthaft ‘ne rostige Harke dabei. Am Ende ist alles gut gelaufen, aber ich habe mich gefragt: “Wieso passiert mir das jetzt zum ersten Mal?” Ich bin noch nie so angegriffen worden. What changed? Du hast gerade die Antwort gegeben. Ich und Goldfell sind so stark zusammen, dass wir die Scham überwinden.

Bisher hat es noch keine Antwort gegeben, warum wir da wirklich erstmals in physischer Gefahr waren. Es hätte richtig übel laufen können, hätten wir die Situation schlechter gemanaged. Warum passiert sowas? Ich hatte bisher keine Antwort, aber deine These zur Scham ist tatsächlich die Antwort, glaube ich. Wenn wir uns nicht schämen würden, würden wir uns so frei verhalten wie die Anderen und dann würden die Anderen uns erstmal platt machen. Manchmal läuft man draußen rum und denkt man ist unangreifbar durch die Liebe und die Kraft, die man einander gibt. Das ist ein total tolles Gefühl, aber es stimmt halt nicht. Wir müssen sichtbarer werden, um die Erzählungen über unsere Lebenseinstellung verbreiten und ändern zu können. Aber die, die sichtbar werden, machen sich angreifbar. Das wiederum macht es wieder weniger attraktiv, dass Leute öffentlich darüber reden wie und was sie sind.

Sobald du diese Öffentlichkeit hast, wirst du verurteilt. Dir wird wieder Scham von anderen Leuten auferlegt. Dass man sich selbst nicht schämt, ist das eine. Doch die Gesellschaft sagt einem oft, man müsste sich schämen.

Tadzio: Kampf gegen Scham ist ein dauerndes Projekt. Ich schäme mich immer wieder für Dinge, für die ich mich in diesen befreiten Momenten mit Goldfell nicht mehr schäme. Wenn ich aber ein paar Tage weg oder in diesem Arbeits-Space bin, merke ich, dass ich mich erstmal wieder für bestimmte Dinge schäme. Wie kann das denn sein, dass ich meinen Partner anbettle, ein Leben als gehorsames Hausfrauchen zu leben. Gender-Sozialisierung ist eine der tiefsten und am schwersten überschreibbaren Codes, die es in uns gibt. Deswegen hat es mir auch so viel bedeutet, dieses Interview nackt und mit Schloss führen zu können, denn ansonsten muss ich mich immer wieder verkleiden. Und diese Verkleidung habe ich so lang getragen, dass die einen ideologischen Effekt hat. 

Das heißt wahrscheinlich hätten wir ein anderes Interview geführt, hätte ich dir gesagt, bleib angezogen.

Tadzio: Mit Sicherheit.

Aber dadurch, dass wir von Anfang an einen schambefreiten Raum geschafft haben, entsteht für dich dieses Gefühl nicht?

Tadzio: Für mich ist dieser Raum eine total spannende Erfahrung. Es ist nicht so, dass ich nicht schon ein ähnliches Setting hatte. Ich lag da in Nylons und einem kecken kleinen BH und hab an mir rumgespielt. Aber das war ein Radiointerview. Doch nun bin ich hier mit diesem nackten Körper, mit dem ich immer mehr in den letzten Wochen nach dem Urlaub gemerkt habe: Hey, das, was der am besten kann, ist Master Goldfell glücklich machen. Und dadurch erfahre ich enorme Glückszustände. Also mit diesem Körper, diesem Teil von mir im Interview präsent zu sein, ist eine total neue Erfahrung und da bin ich dir sehr dankbar.

Bodies are smarter than brains

Die Erfahrung, die du schilderst, dieses Trauma, welches du vom Klimawandel, über dich selber auf deine Sexualität reflektierst, das hängt alles so sehr zusammen…

Tadzio: Deswegen ist es auch so wichtig, den Körper zu sehen und zu zeigen. Ich will auch ein Buch schreiben, in dem es um Körper und Sex geht. Das soll anfangen mit Klimaungehorsam. Bei Ungehorsam setzt du deinen Körper ein, um etwas zu erreichen. Aber mein Körper ist ja viel mehr, als nur ein Poller zwischen Nazis und Geflüchteten oder ein Kraftvektor, der einen Kohlebagger dicht macht. Mein Körper schläft, isst, liebt, wird gefickt, bläst, lacht, küsst und vieles mehr. Je mehr wir davon in die Politik einbringen können, desto attraktiver wird sie auch. Desto weniger deutsch-verkopft bleibt sie. 

Weil es vom Konzept auf eine physische Ebene gehoben wird. 

Tadzio: Bodies are smarter than brains. Das ist eine These, die wir seit eineinhalb Jahren haben, die immer neue interessante Erkenntnisse produziert. Ich habe durch meine ehrliche Sexualität und unser Master-Slave-Verhältnis jetzt auch meine Errektionsstörungen in den Griff bekommen.

Als Frau bin ich durch Pornos und die Gesellschaft konditioniert worden, dass mein Körper reichen muss, um jemanden zu erregen. Als ich das erste Mal die Erfahrung gemacht habe, dass das bloße Ablegen meiner Kleidung nicht reicht, um jemanden zu erregen, war das ein sehr befreiender Moment für mich. Ich habe verstanden, dass es auf die Interaktion, die Verbindung, die man miteinander aufbaut ankommt und mich nicht mehr auf diese Form der Sexualität reduziert. Und diese Erkenntnis, nämlich wie sehr body and brain miteinander connected sind, macht sehr viel mit einem…

Tadzio: Ich nenne es die widerspenstige Materialität des Körpers. Das Hirn ist im Grunde eine Software, die ganz ganz leicht neugeschrieben werden kann durch alle möglichen Ideologie-Produktionsprozesse. Aber der Körper ist halt störrisch. Der ist halt da. Wir müssen die Hemmschwelle, die zwischen den Köpfen von Leuten und ihren Körpern steht, reduzieren. Es muss ja nicht jede:r irgendwie auf BDSM und Kinks stehen. Aber einen Weg zu finden, den Körper erstmal zu hören, das ist eine wichtige Sache.

Sobald man diese Connection geschaffen hat, verändert sich auch das Verhältnis zur Scham. Sobald man verstanden hat, dass Scham ein Regelwerk sein kann, aber auch Sicherheit bietet, versteht man erst, welches Multifunktionalität das eigene Schamgefühl hat. Es kann schützen, aber eben auch viel Negatives mit sich bringen.

Tadzio: Über die These Scham als Schutz muss ich wirklich noch ein bisschen nachdenken. Das ist super spannend. Ich mag es, wenn man sich gegenseitig mit Ideen inspiriert. 


Foto: Nikita Teryoshin

Tadzio Müller ist 45, lebt in Berlin, und arbeitet vor allem daran, seinen Partner und Master glücklich zu machen. Der schwule Politikwissenschaftler ist vor allem bekannt durch große Klima Aktionen wie “Ende Gelände” und “Castor Schottern. Daneben engagiert er sich als queerer Aktivist und als BDSM-Sexworker. In seiner Freizeit ist er außerdem bei cam4 anzutreffen, wo er Politik und Erotik verbindet. Außerdem ist er auf Twitter aktiv, wo er spannende Momente aus seinem Leben teilt.